Was wird aus der Sperr­klau­sel für die Kommunalwahl?

10. Juni 2017
von Redaktion

Hoch­sauer­land­kreis.

Sperr­klau­sel-Kla­ge – Wer schreibt, der bleibt?

Jubi­lä­um
Vor fast genau einem Jahr – am 10.06.2016 – hat­te der NRW-Land­tag mit den Stim­men von CDU, SPD und Grü­nen beschlos­sen, dass ab der nächs­ten Kom­mu­nal­wahl nur noch Par­tei­en und Wäh­ler­grup­pen bei der Sitz­ver­tei­lung berück­sich­tigt wer­den, die min­des­tens 2,5 Pro­zent der Stim­men erhal­ten haben. Dafür wur­de dann nicht nur das Kom­mu­nal­wahl­ge­setz geän­dert, son­dern auch die Landesverfassung.

Kla­gen
Meh­re­re klei­ne­re Par­tei­en und Wäh­ler­ge­mein­schaf­ten hal­ten die Sperr­klau­sel für alles ande­re als demo­kra­tisch. Sie reich­ten daher beim Lan­des­ver­fas­sungs­ge­richts­hof in Müns­ter frist­ge­recht eine Organ­kla­ge ein. Ende des letz­ten Jah­res lagen laut Medi­en­be­rich­ten 9 Kla­gen vor. Zu den Klä­gern gehö­ren bei­spiels­wei­se die PIRA­TEN-Par­tei, DIE LIN­KE, PRO NRW, die ÖDP gemein­sam mit den FW sowie mit Schrei­ben vom 09.12.2016 die Wäh­ler­ge­mein­schaft Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te e.V.
Anmer­kung: Die SBL ist als Frak­ti­on Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te (SBL/FW) seit über 10 Jah­ren im Kreis­tag des Hoch­sauer­land­krei­ses vertreten.

Stand­punkt
Zwi­schen­zeit­lich erhielt die SBL umfang­rei­che Schrei­ben aus Meer­busch und Müns­ter. Um es kurz zu machen, der Bevoll­mäch­tig­te des Land­tags und der Ver­fas­sungs­ge­richts­hof für das Land NRW stel­len sich auf den Stand­punkt, dass der von der Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te e.V. ein­ge­reich­te Antrag for­mal „unzu­läs­sig“ sei, da nur Par­tei­en im Sin­ne des Par­tei­en­geset­zes und nicht kom­mu­na­le Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen bei Organ­streit­ver­fah­ren auf Lan­des­ebe­ne betei­li­gungs­fä­hig wären.

Reak­ti­on
Die Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te teil­te dar­auf­hin dem Lan­des­ver­fas­sungs­ge­richts­hof mit, sie sei mit der Ver­fah­rens­wei­se nicht ein­ver­stan­den und führ­te dazu detail­liert in 6 Punk­ten ihre Argu­men­te aus.
Unwahr­schein­lich, dass sich jemand damit die Zeit mit sol­chen Argu­men­ta­tio­nen zum Erhalt der Demo­kra­tie um die Ohren hau­en möch­te!? Trotz­dem und für alle Fäl­le, hier die Aus­füh­rung zur Sache. Die Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te e.V. schrieb mit Datum vom 23.05.2017 an die Prä­si­den­tin des Landesverfassungsgerichtshofs:

1. Kom­mu­na­le Wäh­ler­ver­ei­ni­gung als Ver­ein ohne über­re­gio­na­le Gliederung
Die Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te e.V. (SBL) ist tat­säch­lich kei­ne Par­tei im Sin­ne des Par­tei­en­geset­zes, da sie nicht auf Bun­des- und Lan­des­ebe­ne aktiv ist und dies auch – ent­spre­chend der Auf­ga­ben­stel­lung laut ihrer Sat­zung – nicht sein will. Damit kann sie die Anfor­de­rung laut § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG, “an der Ver­tre­tung des Vol­kes im Deut­schen Bun­des­tag oder einem Land­tag mit­wir­ken” zu wol­len, nicht erfüllen.
Die SBL mit Sitz in Mesche­de ist als eigen­stän­di­ger Ver­ein in das ört­lich zustän­di­ge Ver­eins­re­gis­ter ein­ge­tra­gen. Ihre Tätig­keit ist gemäß § 2 der Ver­eins­sat­zung auf das Gebiet des Hoch­sauer­land­krei­ses begrenzt. Seit 2006 ist die SBL unun­ter­bro­chen im Kreis­tag des Hoch­sauer­land­krei­ses ver­tre­ten und hat sich an den letz­ten bei­den Kom­mu­nal­wah­len 2009 und 2014 betei­ligt. Die SBL ist – im Gegen­satz zu den in ihrem Gebiet täti­gen Par­tei­glie­de­run­gen – nicht Unter­glie­de­rung irgend­ei­nes Dach­ver­ban­des oder einer ande­ren Orga­ni­sa­ti­on. Daher ist die SBL gleich­zei­tig das “höchst­ran­gi­ge” Ele­ment auf Lan­des­ebe­ne und kann ihre Rech­te nur selbst wahrnehmen.
Im kon­kre­ten Streit­fall ist die SBL von einer Ent­schei­dung des Land­tags so betrof­fen, dass die Fort­dau­er ihrer poli­ti­schen Arbeit, also ihres Ver­eins­zwecks, gefähr­det ist. Dies hat erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf den poli­ti­schen Wett­be­werb im Hoch­sauer­land­kreis. Es gibt inner­halb des Kreis­ge­biets kei­ne Insti­tu­ti­on, bei der die SBL ihre Rech­te aus der Ent­schei­dung des Land­tags gel­tend machen und dage­gen vor­ge­hen könn­te. Der ein­zig mög­li­che Rechts­weg ist also eine Organ­kla­ge gegen den Landtag.

2. Rechts­staats­prin­zip
Aus Art. 20 GG ergibt sich, dass die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein sozia­ler und demo­kra­ti­scher Rechts­staat ist.
“Das Rechts­staats­prin­zip … ist grund­sätz­lich in Art. 20 Abs. 3 GG ange­legt und ver­bin­det in der Sache die Prin­zi­pi­en des for­ma­len und mate­ria­len Rechts­staats. Wäh­rend der for­ma­le Rechts­staat die Staats­ge­walt durch Kompetenz¬zuwei¬sungen, Ver­fah­rens­re­ge­lun­gen und Or-gani­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en bin­det, sieht sie sich durch den mate­ria­len Rechts­staat – vor allem vor dem Hin­ter­grund der his­to­ri­schen Erfah­run­gen des Natio­nal­so­zia­lis­mus – auf inhalt­li­che Rechts­wer­te ver­pflich­tet, zu denen Frei­heit, Gleich­heit und Gerech­tig­keit zäh­len.” (Maunz/​Dürig, Komm zum GG, Art. 102, Rn 28)

“Das Grund­ge­setz bekennt sich damit zu einer orga­ni­sa­to­ri­schen Aus­ge­stal­tung der Staats­ge­walt, die sich an der tra­dier­ten Drei­tei­lung der Staats­ge­walt in Legis­la­ti­ve, Exe­ku­ti­ve und Judi­ka­ti­ve ori­en­tiert. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 knüpft an die die­ser Drei­tei­lung ent­spre­chen­de funk­tio­na­le Gewal­ten­tei­lung bzw. Gewal­ten­un­ter­schei­dung an.”
(Maunz/​Dürig, Komm zum GG, Art. 20, Rn 78)

Die Gewal­ten­tei­lung gehört also zu den grund­le­gen­den Prin­zi­pi­en des Rechtsstaats.
Damit die­se Gewal­ten­tei­lung funk­tio­niert, muss ein gang­ba­rer Rechts­weg eröff­net sein:
“Das Rechts­staats­prin­zip ver­mit­telt hier nach Ansicht des BVerfG einen Anspruch auf Rechts­schutz durch unab­hän­gi­ge Gerich­te, der als Jus­tiz­ge­währ­an­spruch bezeich­net wird.” (Maunz/​Dürig, Komm zum GG, Art. 20, Rn 133).
Die­ser Jus­tiz­ge­währ­an­spruch wäre dann nicht erfüllt, wenn sich eine Kom­mu­na­le Wäh­ler­ver­ei­ni­gung nicht gegen ver­fas­sungs­wid­ri­ge und sie exis­ten­ti­ell benach­tei­li­gen­de Ent­schei­dun-gen des Land­tags weh­ren kann.

3. Rech­te von Wählervereinigungen
Die aus Art. 3 GG abge­lei­te­te Chan­cen­gleich­heit von Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen im Ver­gleich zu Par­tei­en hat auch in der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (BVerfG) einen hohen Rang. Hier­zu ist ins­be­son­de­re auf den Beschluss des BVerfG vom 17. April 2008 – 2 BvL 4/05 hin­zu­wei­sen. Dar­in heißt es u.a.: ”
“Das Recht auf Chan­cen­gleich­heit (Art. 3 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) ist ver­letzt, wenn Zuwen­dun­gen an poli­ti­sche Par­tei­en im Sin­ne des § 2 des Par­tei­en­geset­zes steu­er­frei gestellt sind, Zuwen­dun­gen an kom­mu­na­le Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen und ihre Dach­ver­bän­de dage­gen nicht.”
Auch in der Begrün­dung bringt das BVerfG klar zum Aus­druck, dass kein Grund für eine unter­schied­li­che Behand­lung von Par­tei­en und kom­mu­na­len Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen besteht. So wird aus­drück­lich auf die “ver­fas­sungs­recht­lich geforderte(n) Chan­cen­gleich­heit im poli­ti­schen Wett­be­werb” hin­ge­wie­sen und des BVerfG stellt fest, dass die­ser Grund­satz aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt (C II).
Wei­ter heißt es dort:
“Für die Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Par­tei­en und kom­mu­na­len Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen und ihren Dach­ver­bän­den gibt es kei­ne trag­fä­hi­gen ver­fas­sungs­recht­li­chen Grün­de… Bei­de Grup­pen tre­ten jeden­falls auf kom­mu­na­ler Ebe­ne in einen poli­ti­schen Wettbewerb.”
Die­se Grund­sät­ze sind nicht nur für den Bereich des Steu­er­rechts anwend­bar, son­dern für die gesam­te Tätig­keit der Par­tei­en und Wählervereinigungen.

4. Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen im Steuerrecht
Der Bun­des­ge­setz­ge­ber behan­delt Par­tei­en und Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen auch im Ein­kom­men­steu­er­ge­setz hin­sicht­lich der sog. Par­tei­spen­den gleich und macht damit ihren Stel­len­wert deutlich.
In § 34g EStG werden
“poli­ti­sche Par­tei­en im Sin­ne des § 2 des Parteiengesetzes”
und
“Ver­ei­ne ohne Par­tei­ch­a­rak­ter, wenn
a) der Zweck des Ver­eins aus­schließ­lich dar­auf gerich­tet ist, durch Teil­nah­me mit eige­nen Wahl­vor­schlä­gen an Wah­len auf Bundes‑, Lan­des- oder Kom­mu­nal­ebe­ne bei der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung mitzuwirken”
in glei­cher Wei­se genannt.
Der Bun­des­ge­setz­ge­ber macht auch damit deut­lich, dass Par­tei­en und Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen als Orga­ni­sa­tio­nen zur Mit­wir­kung an der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung einen glei­chen Stel­len­wert haben.

5. Par­tei­fä­hig­keit von poli­ti­schen Par­tei­en im Organstreitverfahren
Sogar in der vom Prä­si­den­ten des Ver­fas­sungs­ge­richts­hofs her­aus­ge­ge­be­nen “Fest­schrift zum 50-jäh­ri­gen Bestehen des Ver­fas­sungs­ge­richts­hofs für das Land Nord­rhein-West­fa­len” (Müns­ter 2002) wird dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Par­tei­fä­hig­keit poli­ti­scher Par­tei­en vom Ver­fas­sungs­ge­richts­hof weit aus­ge­legt wird. Pieroth führt dazu aus:
“Die­se waren … schon früh in einer Ple­nar­ent­schei­dung als par­tei­fä­hig im Organ­streit­ver­fah-ren aner­kannt wor­den. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat das damit begrün­det, dass Art. 21 GG die poli­ti­schen Par­tei­en ‘zu not­wen­di­gen Bestand­tei­len des Ver­fas­sungs­auf­baus’ gemacht habe und sie bei der Mit­wir­kung an der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung des Vol­kes Funk­tio­nen eines Ver­fas­sungs­or­gans aus­üben … Ein­be­zo­gen wur­den dabei auch die Unter­glie­de­run­gen der poli­ti­schen Par­tei­en.” (a.a.O., S. 108 f.).
All dies trifft auch für für den Kreis­tag kan­di­die­ren­de und im Kreis­tag ver­tre­te­ne Kom­mu­na­le Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen zu, ins­be­son­de­re für die Antrag­stel­le­rin im lau­fen­den Ver­fah­ren. Sie darf nach dem Gleich­heits­grund­satz in ihren recht­li­chen Mög­lich­kei­ten nicht schlech­ter ge-stellt wer­den als Unter­glie­de­run­gen poli­ti­scher Par­tei­en im Land NRW.

6. Rechts­fol­gen einer Nicht-Par­tei­fä­hig­keit der SBL
Wenn nun kom­mu­na­len Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen jede Mög­lich­keit genom­men wür­de, sich gegen ver­fas­sungs­wid­ri­ge Ent­schei­dun­gen des Land­tags durch eine Organ­kla­ge zu weh­ren, wür­de die­ses eine erheb­li­che Ungleich­be­hand­lung im Ver­gleich zu Par­tei­en nach Par­tei­en­gesetz dar­stel­len. Der Wett­be­werb auf kom­mu­na­ler Ebe­ne wür­de zu Las­ten der kom­mu­na­len Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen und zu Guns­ten der Par­tei­en erheb­lich beein­flusst. Denn die Par­tei­en hät­ten dann die Mög­lich­keit, durch ihre Man­dats­trä­ger im Land­tag die Gesetz­ge­bung zum Nach­teil kom­mu­na­ler Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen zu gestal­ten und ihren loka­len Unter­glie­de­run­gen dadurch Wett­be­werbs­vor­tei­le zu ver­schaf­fen. Das könn­te bis hin zu will­kür­li­cher Gesetz­ge­bung reichen.
Im kon­kre­ten Streit­fall zeigt sich, dass sich im Land­tag eine Mehr­heit aus Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten gro­ßer und “eta­blier­ter” Par­tei­en gefun­den hat, die mit ihren Beschlüs­sen zur Sperr­klau­sel die Wahl­chan­cen kom­mu­na­ler Wäh­ler­ver­ei­ni­gun­gen ver­schlech­tert hat.
Im Gegen­satz zu ande­ren Wahl­ge­bie­ten besteht im Hoch­sauer­land­kreis die in der Organ­kla­ge näher aus­ge­führ­te beson­de­re Situa­ti­on, dass im Kreis­tag durch die Frak­tio­nen CDU, SPD, FDP und Grü­ne fak­tisch eine “Ganz­Ganz­Groß­e­Ko­ali­ti­on” (GaGa­Gro­Ko) gebil­det wur­de; die oppo­si­tio­nel­len Par­tei­en ver­fü­gen zusam­men nur über 5 der 54 Sit­ze. Es droht bei der nächs­ten Kommu¬nalwahl durch eine Sperr­klau­sel also der völ­li­ge Ver­lust jeg­li­cher Oppo­si­ti­on, wenn auf­grund der Gesetz­ge­bung des Land­tags im nächs­ten Kreis­tag des Hoch­sauer­land­krei­ses SBL, Lin­ke und Pira­ten nicht mehr ver­tre­ten sein sollten.
Die­se Per­spek­ti­ve unter­schei­det sich erheb­lich von der­je­ni­gen in ande­ren Wahl­ge­bie­ten in NRW und fin­det sich auch in kei­ner der ande­ren gegen die Sperr­klau­sel ein­ge­reich­ten Organ­kla­gen wie­der. Sie wür­de daher vom Ver­fas­sungs­ge­richts­hof nicht berück­sich­tigt wer­den, falls die Organ­kla­ge der SBL nicht zuge­las­sen wer­den würde.
In der Kon­se­quenz blie­be im Fal­le einer Nicht­zu­las­sung der Organ­kla­ge der Antrag­stel­le­rin nur der Weg zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, was auch erheb­li­che Unsi­cher­hei­ten im Hin­blick auf die im Herbst 2020 in NRW anste­hen­den Kom­mu­nal­wah­len zur Fol­ge haben könnte.“

PM der Sau­er­län­der Bür­ger­lis­te (SBL/FW)