Leserbrief: Gedanken zur geplanten Straßenumbenennung

Sundern-Hachen (Hochsauerland) Als ich ins Sauerland kam, ging es mir wie manchem jüngeren Bewohner der Nelliusstraße – ich konnte mit dem Namen Georg Nellius nichts anfangen, da ich bis dato von ihm noch nichts gehört hatte.

Als ich zum ersten Mal das Lied „Meyn Duarp“ hörte, das ja die Sehnsucht des jungen Textdichters und Kriegssteilnehmers Henke nach seinem Heimatdorf widerspiegelte, das er nicht mehr sehen konnte, da er 1917 im Felde fiel, als ich dazu die ergreifenden Vertonung durch Nellius vernahm, war ich im Bann des großen Sauerländer Komponisten. Als Chorist des Chores MC-Eintracht Hachen durfte ich an der Aufführung der plattdeutschen Messe im Neheimer Dom, wie in Bad Fredeburg an der Festveranstaltung der Christine Koch Gesellschaft teilnehmen. Ich habe mich im Stillen, wie die anderen Sänger auch, vor dem Genie dieses großen Komponisten verneigt, der nun nach fast 70 Jahren wegen der ihm vorgeworfenen Verstrickungen im Dritten Reich von Peter Bürger und seinem Anklägerkonsortium mit Akribie posthum vorgeführt und abgestraft werden soll.

Jeder Zeitzeuge kannte die Nellius vorgeworfenen Anklagepunkte, keiner erhob sich als man ihn 1975 für den Straßennamen einer kleinen Straße in Hachen vorschlug, einfach deshalb, da er niemandem an Leib und Leben Schaden zugefügt hatte.

Von den heutigen Anklägern wurde ihm vorgeworfen, „dass sich ein brauner Faden durch all seine Kompositionen auch schon vor 1933 zieht“. Jeder, der sich mit dem Schaffen von Nellius auseinandergesetzt hat, ist von der Ungeheuerlichkeit dieses Vorwurfs entsetzt. Kein Chorist, der durch eine Nelliusstraße fährt, wird den Namen mit brauner Musikliteratur in Verbindung bringen, sondern mit seinen wunderbaren Vertonungen der Sauerländer Lyrik, die 450 Werke umfassen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Artikel im Jahrbuch Hochsauerlandkreis 1991, S. 140/141 von Dr. Ernst Rehermann und Heinrich Schnadt.

Für diejenigen, die Nellius nicht kannten, bestand der Name nur aus Buchstaben ohne inhaltliche Bedeutung. Muss sich also eine Gemeinde für diesen Namen schämen? Warum hat man nicht endlich den Mut zu einer objektiven Abwägung der negativen und positiven Aspekte ohne zugleich die moralische Keule zu schwingen und welchen Sinn hat eine solch neue Anklage, das posthume

Wühlen in einer Epoche deutscher Geschichte, die endlich der Bewältigung bedarf? Diese Bewältigung darf aber nicht in einen historischen Exorzismus einmünden, wie es der Historiker Sabrow in einem Spiegelinterview im Februar ausdrückte, sondern zur Akzeptanz der eigenen Geschichte. Das Entfernen von Straßenschildern heißt, die Geschichte aus dem Gedächtnis zu verbannen.

Fakt ist, dass sich Nellius wie andere zahlreiche Schauspieler und Künstler dem Hitlerregime zur

Verfügung gestellt hat, dass er braune Texte vertonte, dass er den verbalen Antisemitismus dieser

Diktatur pflegte, der selbst die französische Olympiamannschaft 1936 nicht abschreckte den Hitlergruß zu erweisen. Wir wissen heute um die schrecklichen Vorgänge des Holocaust, wir wissen, dass dieser Antisemitismus eine Vorstufe für das Unfassbare war, aber wir können dieses Wissen nicht den Zeitgenossen unterstellen, wir können es auch Georg Hermann Nellius nicht unterstellen.

Nellius wurde 1934 Präsident des Westfälischen Sängerbundes, der im Zuge der sog. Gleichschaltung wie der deutsche Sängerbund nicht aufgelöst wurde, aber natürlich unter stärkster Beobachtung stand, zudem war er Gauchorleiter. Welchen Spielraum hatte er also, um existenziell zu überleben und sich für seine sauerländischen Sänger einzusetzen?

Bei Aufführung jüdischer Komponisten oder auch nur bei deren Wertschätzung wäre der totale Überwachungsstaat in Aktion getreten.

Wir wissen aus der 2. deutschen Diktatur, deren Mithelfer und Opfer ja heute noch leben, dass es den offiziellen und den privaten DDR- Bürger gab ,dessen politische Ansicht entsprechend diametral auseinanderklaffte – können wir das nicht auch Nellius zubilligen?

Der Rat der Stadt ist sich seines vermeintlich moralischen Handelns in der Verurteilung des Komponisten sicher, hat sich aber damit dem Schatten des Dritten Reiches unterworfen, den man endlich abwerfen sollte. Man sollte Geschichte nicht vergessen machen, aber einen der begnadetsten Kulturträger des Sauerlandes posthum zu eliminieren ist der falsche Weg.

Nellius wurde entnazifiziert und in Kategorie V, „unbelastet“, eingestuft – dies ist ein rechtsgültiges Dokument, ob es nachträglich als „Persilschein“ in Diskriminierungsabsicht genannt wird, ändert an der Tatsache nichts.

Nellius als Straßenname würde heute niemand – wahrscheinlich nur das heutige Anklägerkonsortium- mit Nazipropaganda gleichsetzen. Jeder, der sein musikalisches Wirken kennt, weiß, warum er geehrt wurde. Nachdem sich der Rat der Stadt wie die Medien dem moralischen Diktat des Peter Bürger und seiner Mitstreiter gebeugt haben, hoffe ich, dass im Bürgerentscheid

die Sachlichkeit in der Geschichtsbewältigung überwiegen wird.

Willi Klein

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